zum Inhalt springen

Totentanz | online ab 21. November 2021

Totentanz

Musik, Bilder und Texte
Kontemplatives, Schauriges, Skurriles vom Mittelalter bis heute

online ab dem 21.11.2021, 18:00 Uhr auf dem YouTube-Kanal des Collegium musicum

mit Ensembles des Collegium musicum der Uni Köln und Solist*innen

Chor der Uni Köln
Kammerchor der Uni Köln
The Swingcredibles, Big Band der Uni Köln
Grand Jazz Ensemble der Uni Köln
Kölner Vokalsolisten
Thomas Bonni, Bassbariton
Christoph Schnackertz, Klavier

Zwischen Impfquoten und Inzidenzwerten, an die wir uns in den nunmehr 21 Monaten der Pandemie gewöhnt haben, geht oftmals der Blick auf das verloren, was sich hinter der Statistik verbirgt: Menschen sterben, viele hätten noch Jahre vor sich gehabt. Angehörige bleiben trauernd zurück ohne Abschied nehmen oder im Sterben begleiten zu können...
Wo bleibt zwischen Politik und Verordnungen die Emotion, die Sorge um das eigene Leben und das Mitgefühl für diejenigen, deren Leben Covid-19 rapide verändert hat? Bleiben wir an der Statistik hängen oder lassen wir selbst den Gedanken zu, dass der Tod ein ständiger Begleiter und das notwenige Ziel unseres Lebens ist?

Pandemien und Epidemien haben durch die Zeit hindurch Gesellschaften immer wieder geprägt, haben Phasen großer Depression, Angst und Sinnlosigkeit ausgelöst, aber auch Veränderungen angestoßen, die gesellschaftlichen Entwicklungen neue Richtungen geben konnten.

Zurückgehend auf literarische Quellen wie die „Legende von den drei Lebenden und den drei Toten“ hat sich im Zuge der Pestepidemien des 14. Jahrhunderts, die größten Schrecken auslösten und zahllose Opfer forderten, in Europa das Bildgenre „Totentanz“ entwickelt. Auf Friedhofs- und Kirchenmauern mahnten lebensgroß dargestellte Menschen und Skelette,
daran zu denken, dass das Leben zu jeder Stunde – so die tägliche Erfahrung mit der Pest – sein Ende finden konnte.
Das Bildthema hat von Anfang an eine große Faszination ausgeübt und sich von diesen Ursprüngen ausgehend bis heute erhalten und entwickelt, ganz besonders als Begleitung von Kriegen, Naturkatastrophen und Seuchen, aber auch in sehr persönlichen künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Lebensende. Neben der bildendenden Kunst und Literatur fand der „Totentanz“ auch Eingang in Theater, Tanz, Film und natürlich Musik.

Forschend hat sich das Team des Collegium musicum in diesem Jahr dem Thema "Totentanz" genähert und damit auch unsere eigene Situation in der Pandemie reflektiert. Das moderierte online-Konzert präsentiert die Früchte der musikalischen Arbeit unter Corona-Bedingungen und zeigt die künstlerische Vielfalt und Entwicklung, mit der wir versucht haben, aus der Not eine Tugend zu machen. Neben Chor, Kammerchor und Big Band der Universität zu Köln treten Solist*innen in Erscheinung, die eng mit dem Collegium musicum verbunden sind. Interviews mit dem Kunst- und Medizinhistoriker Prof. Dr. Klaus Bergdolt gewähren Einblicke in ein existenzielles Thema und ergänzen die künstlerische Auseinandersetzung.

Beginnend mit dem mittelalterlichen „Ad mortem festinamus“ findet sich Musik aus der Barockzeit genauso wie Kunstlieder, Jazz-Standards, ein ganz neues Stück unseres Universitätsmusikdirektors Michael Ostrzyga und Arrangements von Big Band-Leiter Johannes Nink. Regisseurin Sophia Herber führt durch das von ihr kuratierte Programm mit Kontemplativem, Schaurigem und Skurrilem.
Zum Totensonntag präsentiert das Collegium musicum eine ganze Sendung rund um den „Totentanz“ und lädt Sie ein, dem Tod zu begegnen, ihm zuzuhören, ihn auszulachen oder einzuladen, zu trauern und auch das Leben zu feiern!


Plakatmotiv: Ausschnitt aus dem Bleibacher Totentanz
Foto: © Jörgens.Mi/Wikipedia, Licence: CC-BY-SA 3.0, Source: Wikimedia Commons

Jacques Brel: "La Mort"

Für die Swingcredibles hat der Leiter unserer Big Band, Johannes Nink, Jacques Brels Chanson "La mort" arrangiert. In seinem absurd-ironischen Text findet Brel den Tod in verschiedensten Situationen des Lebens – in den letzten Blättern, die vom Baum fallen, aus dem sein Sarg gezimmert wird, begegnet er ihm ebenso wie in den Händen der Geliebten, die eines Tages seine Augenlider schließen muss. Der Tod erwartet ihn wie eine Prinzessin zum Begräbnis seiner Jugend oder lauert unter dem Kopfkissen, auf dem er eines Tages das Erwachen vergessen wird.

Mit nur 49 Jahren verstorben, hinterließ Brel Chansons voller Bitterkeit, Wut und Verzweiflung, aber auch Liebe und Hoffnung. Er konnte die ganz großen Dramen des Lebens im 3-Minuten-Format erzählen und war durch seinen emotionalen Vortrag mit überbordender Mimik und Gestik weltweit zu verstehen. In "La Mort" von 1959 verarbeitet er musikalisch weite Teile der Sequenz "Dies irae" aus dem gregorianischen Requiem. Nicht nur – leicht erkennbar – im Intro, sondern auch versteckter und reharmonisiert als Grundlage für seinen Text. Somit haben die drei Strophen jeweils drei Teile. Die ersten beiden gehen auf das "Dies irae" zurück und haben die relativ ungewöhnliche ungerade Länge von jeweils sieben Takten. Der dritte Teil ist ein neuer, im Marschrhythmus gehaltener Abschnitt. Ninks Arrangement hat Melodie und Form übernommen, allerdings mit einer eigenen Harmonisierung, einem anderen Intro und Outro und einem eingefügtem Solo-Teil.

David Bowie übrigens adaptierte 1972 das Chanson des von ihm hochverehrten Belgiers ebenfalls und brachte es personalisiert als "My death" heraus. Aus dem Marsch von Brel wird bei Bowie eine melancholische Ballade, die aber nichts desto trotz dazu aufruft, die Tage, die uns geschenkt sind, zu genießen.

Im Video kombiniert Sophia Herber die Musik mit Bildern des belgischen Malers James Ensor (1860–1949). Ensor verbrachte den größten Teil seines Lebens in seiner Heimatstadt Ostende. Der Maler hatte es schwer, als Künstler anerkannt zu werden. In seinen Werken thematisiert er sein Leiden daran und stilisiert sich selbst als Märtyrer. Der Motivkreis Tod tritt besonders nach dem Tod seines Vaters 1887 in sein Œuvre. Immer wieder malt er Skelette und auch sich selbst mit Totenschädel. Sein Hauptwerk wimmelt geradezu von Masken und Skeletten, die er aus dem Laden seiner Mutter seit frühester Kindheit kannte und die in der karnevalistischen Tradition Ostendes eine große Bedeutung hatten. Ähnlich wie Brel in seinem Chanson den Tod, den er überall entdeckt, demaskiert, nutzt Ensor die Masken und Totenschädel in seinen Bildern. Was wie ein Widerspruch klingt, ist Absicht: Das "wahre Gesicht" der Menschen wird gerade in den Fratzen und Masken offenbar. Für beide Künstler gilt: Der Tod war eines der Hauptthemen ihres Schaffens. Beide begegnen ihm auch mit Ironie und Sarkasmus. Hierin liegt ein elementarer Unterschied zu David Bowie, dessen sehr persönliche Interpretation von "La mort" keinerlei ironischen Zugang beinhaltet.

France Brel, Tochter des Chansonniers und Vorsitzende der Fondation Brel freut sich über Johannes Ninks Arrangement, das sie als "magnifique travaille" lobt.

 

La mort

La mort m'attend comme une vieille fille
Au rendez-vous de la faucille
Pour mieux cueillir le temps qui passe

La mort m'attend comme une princesse
À l'enterrement de ma jeunesse
Pour mieux pleurer le temps qui passe

La mort m'attend comme Carabosse
À l'incendie de nos noces
Pour mieux rire du temps qui passe

Mais qu'y a-t-il derrière la porte
Et qui m'attend déjà
Ange ou démon qu'importe
Au devant de la porte il y a toi

La mort attend sous l'oreiller
Que j'oublie de me réveiller
Pour mieux glacer le temps qui passe

La mort attend que mes amis
Me viennent voir en pleine nuit
Pour mieux se dire que le temps passe

La mort m'attend dans tes mains claires
Qui devront fermer mes paupières
Pour mieux quitter le temps qui passe

Mais qu'y a-t-il derrière la porte
Et qui m'attend déjà
Ange ou démon qu'importe
Au devant de la porte il y a toi

La mort m'attend aux dernières feuilles
De l'arbre qui fera mon cercueil
Pour mieux clouer le temps qui passe

La mort m'attend dans les lilas
Qu'un fossoyeur lancera sur moi
Pour mieux fleurir le temps qui passe

La mort m'attend dans un grand lit
Tendu aux toiles de l'oubli
Pour mieux fermer le temps qui passe

Mais qu'y a-t-il derrière la porte
Et qui m'attend déjà
Ange ou démon qu'importe
Au devant de la porte il y a toi
 

Michael Ostrzyga: "Ein Totentanz"

Michael Ostrzyga über seine Komposition Ein Totentanz:

Die Texte, die ich für mein Vokalwerk Ein Totentanz zusammengestellt habe, lauten:

"Pest geht vor ihm her, und Seuche folgt, wo er hintritt" (aus der Lutherbibel: Habakuk 3, 4)

"Was sind wir Menschen doch? ... ein Irrlicht dieser Zeit ... bald verschmeltzter Schnee" (aus "Menschliche Elende von Andreas Gryphius, 1637)

"...nun komme zum Tantz ... ietzt mustu zu staub/ und Aschen werden." (Texte des Totentanzgemäldes in Bruchhausen, 17. Jh.)

"Mitten im Leben, vom Tod umfangen."

Der Tod gehört zum Leben dazu. Wenn Shakespeare Prospero in The Tempest sagen lässt: "We are such stuff as dreams are made on, and our little life is rounded with a sleep.", dann schwingt für mich dabei auch etwas sehr Positives mit. Woher speisen sich Träume eigentlich, speist sich Fantasie und Eingebung? Für mich hat Musik immer etwas sehr Jenseitiges. Und Einmaliges und Vergängliches wird gerade durch diese Eigenschaften besonders.

Shakespeare knüpft, wenn man so will, an einen Text aus dem (wahrscheinlich) schon 8. Jahrhundert an, an die gregorianische Weise "Media vita in morte sumus". Besonders in der Liedform Martin Luthers von 1524 wurde sie zu einem musikalischen Sinnbild der damaligen Vergänglichkeits-Reflexion: "Mitten wir im Leben sind / mit dem Tod umfangen." Felix Mendelssohn hat diese Luther-Version auf sehr eindrückliche Weise vertont. Der Abschluss meiner Komposition Ein Totentanz wurde inspiriert von Mendelssohns Beginn, allerdings ist etwas ganz anderes entstanden. Zum Teil wurde aus dem Nacheinander bei Mendelssohn etwas Gleichzeitiges, vor allem aber kommt dem Wiederholen von sehr stillen Momenten große, dem Verstummen noch größere Bedeutung zu.

Auch der Totentanz hat mit der Auseinandersetzung mit Vergänglichkeit zu tun. Als die Kölner Vokalsolisten mich mit einem Stück beauftragt hatten, das auf die Pandemie eingeht, lag das Thema Totentanz für mich allerdings noch nicht auf der Hand. Zu dieser Idee kam ich erst, als die Möglichkeit angesprochen wurde, auch auf politische und gesellschaftliche Aspekte einzugehen. Diese empfand ich wie ganz eigene Arten und Weisen des Totentanzes. Die politische Dimension konnte ich in der Komposition letztlich nicht wirklich einbringen, die Musik sperrte sich dagegen. Aber die Idee des Totentanzes blieb erhalten.

Mit dem Collegium musicum wollten wir Bild- und Ton-Aufnahmen machen in St. Johannes Baptist in Bruchhausen am Mittelrhein, da dort ein Totentanz-Gemälde aus dem 17. Jahrhundert hängt. Zu diesen Aufnahmen konnte es aufgrund von Renovierungsarbeiten in der Kirche dann leider nicht kommen. Aber bei einem Ortstermin war ich von diesem Totentanz so beeindruckt, dass ich Texte daraus zu einer Art skurilem Walzer vertonte, der den Mittelteil meiner Komposition bildet und sich nach und nach in die Höhe schraubt, bis hin zu den Worten "mit der Luft entfliehn".

Am Beginn steht wie eine erschütternde Psalm-Anrufung der Text aus Habakuk, von Luther so übersetzt: "Sein Glanz ist wie Licht; Strahlen gehen aus von seinen Händen. Darin ist verborgen seine Macht. Pest geht vor ihm her, und Seuche folgt, wo er hintritt." Schon bald bildet er einen Vordergrund, hinter dem das Fügen in die Vergänglichkeit als alternativlos, aber auch in tröstender Weise immer konkreter wird.
 

Michael Ostrzyga: Ein Totentanz (2021)

Kölner Vokalsolisten

Natascha Goldberg, Sopran
Andra Isabel Prins, Alt
Leonhard Reso, Tenor
Fabian Hemmelmann, Bariton
Christian Walter, Bass

Michael Ostrzyga, Dirigent

Tonaufnahme und Audio-Mix: Carim Clasmann
Video-Schnitt: Michael Ostrzyga

Auftragskomposition der Kölner Voklasolisten gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen von Neustart Kultur

Tonaufnahme vom 3. September 2021 in der ev. Kirche Rondorf.
Dank an die ev. Kirchengemeinde Rondorf!

Sting: "Fragile" / Arr. Johannes Nink

Artemis Herber über ihren Zeichenprozess
im (schriftlichen) "Gespräch" mit Sophia Herber

"Der Mensch", schreibt Artemis Herber, "hat Klima und Ökosysteme unseres Planeten verändert, was nun die beunruhigenden Auswirkungen und Folgen der Pandemie verstärkt und zeigt, wie zerbrechlich und verletzlich das Leben auf der Erde ist, wie zerbrechlich das Leben jedes einzelnen Erdbewohners."

Die aus Deutschland stammende Künstlerin lebt seit 20 Jahren in den USA. Auch für sie bedeutet die Erfahrung der Pandemie ein Arbeiten in weitgehender Isolation, keine Ausstellungen, Vorträge, Workshops oder Reisen.

A. H.: "In den Monaten der Pandemie habe ich mich auf die Beziehung von Zeit und Beschleunigung konzentriert und im experimentellen Zeichnen meine künstlerische Arbeit entschleunigt. Die Erfahrung des Arbeitens in Isolation bedeutet für mich, mich um die Qualität der Zeit zu kümmern, mir Zeit zu nehmen, ja Zeit zu erschaffen – entgegen den Gewohnheiten unserer schnelllebigen Welt der Mobilität, mit ihrem kurzen Gedächtnis und der sofortigen Befriedigungen jedes (scheinbaren) Bedürfnisses."

September 2021: Meine Anfrage zur Zusammenarbeit nimmt Artemis Herber sofort und mit Begeisterung an. Die Verlegung ins Digitale, zu der wir gezwungen sind, ermöglicht immerhin, über Ozeane hinweg gemeinsam etwas zu erschaffen.

Die Idee, der Ausgangspunkt, ist Stings Song Fragile, der mit seiner so leicht daher kommenden Melodie in poetischen Worten die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens thematisiert. Den Tribute-Song, komponiert 1987 anlässlich des Mordes am amerikanischen Ingenieur Ben Linder, der in Nicaragua von Rebellen ermordet wurde, spielte Sting am Abend des 11. Septembers 2001 zur Eröffnung eines Konzerts in Italien. Angesichts der Terroranschläge auf das World Trade Center, die erst wenige Stunden zurück lagen, fragte man sich, ob das Konzert überhaupt gespielt werden solle. Durch die Musik, entschied die Band gemeinsam, sollte ein Zeichen gesetzt werden gegen die Gewalt und für das Leben. Einige Jahre später wählte Sting den Song noch einmal zu einem besonderen Anlass: zur Wiedereröffnung des Konzertsaals Bataclan in Paris.

Johannes Nink arrangierte Fragile für unsere Big Band The Swingcredibles. Am Ende seines Arrangements steigen abrupt alle Instrumente aus und übrig bleibt – ganz allein – die Stimme des Sängers (Michèl Felgner). Als ich Johannes am Telefon die Idee unterbreite, als Video zum Song die Genese einer Zeichnung von menschlichen Figuren rückwärts zu zeigen, wird uns klar, dass wir hier eine sehr ähnliche Idee hatten – wo musikalisch nur die Stimme bleibt, bleibt visuell am Ende ein weißes Blatt.

Dass das Video aber noch einmal spannender werden würde als in meiner ersten Idee, wird klar, als Artemis Herber zusagt. Ihre Arbeitsweise in sich überlagernden Schichten, ausgelöschten und wiedergefundenen Linien und Spuren führt dazu, dass hier gar nicht unmittelbar klar wird, dass wir rückwärts gehen.

A. H.: "Im Zeitraffer des Videos scheint mein Zeichenprozess durch eine schnelle Linienführung gekennzeichnet. Jede Zeichnung erfordert aber etwa eine Stunde Arbeit. Die Idee, ein kurzes Video zu produzieren, in dem mein Zeichenprozess extrem beschleunigt, aber rückwärts abläuft, faszinierte mich. So konnte ich die Komposition meiner Zeichnung auf die Komplexität von Zeit, Raum und Bilderfluss reduzieren."

Artemis Herber arbeitet mit Holzkohle, einem der "frühen und elementaren Werkzeuge menschlicher Kunstproduktion". Dieses "mysteriöse, dunkle und staubige Material" passt ausgezeichnet zu ihrer Arbeitsweise: mehrschichtige Verdichtungen, Akkumulationen, Auflösungen und Verwischungen lassen sich mit Zeichenkohle ideal umsetzen.


Zu Beginn des Videos sehen wir die fertige Zeichnung. Menschliche Figuren füllen einen großen Teil der Bildfläche mit angedeuteten architektonischen Elementen: ein versperrter Durchgang, dahinter Dunkel. Die Figuren scheinen den engen Raum zu vermessen. Bis wohin kann ich mich ausdehnen? Wie kann ich ausbrechen? Wohin kann ich ausweichen? Resignation scheint genauso erkennbar wie Erschöpfung, Kraft ebenso wie Verzweiflung. Nicht durch Mimik – die Gesichter sind nicht erkennbar –, sondern durch das, was wir aus den Körperhaltungen lesen oder vielleicht sogar nachfühlen können. Auf der Oberfläche der Zeichnung sehen wir zahlreiche Spuren: Verwischungen, durchbrochene Linien, ausradierte Partien, Licht und Schatten.

Die Künstlerin erklärt: "Ausgangspunkt meiner Zeichnung war die Erfahrung von geschlossenen Räumen, das Gefangensein in Menschenmengen, das Festsitzen in beengten Umgebungen, Ecken, Türrahmen oder schmalen Fluren, die durch Corona eine ganz andere Bedeutung erhalten haben. Während zwei oder drei Modelle sich in meinem Atelier zur Musik (von Sting oder anderen Komponisten) bewegten und positionierten, habe ich meinen Zeichentisch entweder in eine Nische oder in eine versperrte Tür gestellt und so das beengte Gefühl beim Zeichnen als eigene körperliche Erfahrung hervorgerufen. Ich habe die Körperdrehungen und Richtungsänderungen gezeichnet, ein Bücken, Strecken oder das Ausweichen, um den Kontakt zu einer anderen Person zu vermeiden, wie wir es in der Pandemie bei der Bewegung von Passanten auf der Straße erleben. Dabei habe ich meine Konzentration auf die Fragilität in diesen Bewegungen gelegt, auf die Befindlichkeiten, die in den Torsionen der Körper zum Ausdruck kamen. Die Idee der Fragilität überschneidet sich dabei mit dem Konzept der Fluidität: Das Fragile spiegelt sich in meinen Linienspuren, ihren Auslöschungen, Verwischungen, Verschleierungen, Verdunkelungen, Aufhellungen, Überlappungen und Überschneidungen. Ist eine Person einmal fixiert, scheint sie im nächsten Moment ausgelöscht, konturlos oder unbestimmt zu sein. Dennoch bleibt die Erinnerung für einen Moment als Ansammlung von Staub und in den Schichten des Überzeichnens bestehen. Manchmal zeichne ich mit beiden Händen, um die Ungeschicklichkeit des Zeichnens als Form des Vergessens und Verschwindens zu verstärken. Oder ich zeichne mit geschlossenen Augen, um mir einen lebendigen Moment vor seiner Auslöschung oder Auflösung in den Staub der Materie einzuprägen. Am Ende gibt es eine Fülle von Ablagerungen, Linien, und Spuren, entstanden aus dem Gesamtprozess dieser endlosen Überlagerungen, diesen Spuren menschlicher Existenz."

Im Verlauf des Videos braucht man eine Weile, um zu begreifen, dass die Zeit hier rückwärts abläuft. Auch wenn am Ende alle Spuren ausgelöscht sein werden, verschleiert die Arbeitsweise der Künstlerin dieses Ende über eine gewisse Zeit. Die Figuren verschwinden, nur um kurz darauf wieder zu erschienen – vielleicht sogar deutlicher erkennbar als zuvor.

Artemis Herber sinniert über die Bedeutung der Begriffe Anfang und Ende:
"Das Video, das meinen Zeichenprozess rückwärts zeigt, ermöglicht eine Neuinterpretation von Anfang und Ende. Der umgekehrte Modus suggeriert einen Kreislauf von ewigen Anfängen und endlosen Enden. Von Bedeutung ist das Dazwischen, die eingravierten, aber nicht festgeschriebenen Schichten von Zeit und Raum. Ende und Anfang sind sich kreuzende Zyklen, sind die unzähligen Erfahrungen von Lebendigkeit: der Prozess des Erschaffens, die Fülle der Kreativität, der Reichtum an Linien und Lebensentwürfen als umfassender Akt eines erfüllten, und eben nicht nur konsumierten Lebens. Unser „Fragile”-Video ist kein memento mori, sondern die Aufforderung zur Lebendigkeit. Jede Zeichenspur mit ihrem Suchen, sich Verschlingen und ihren Unsicherheiten markiert einen Neuanfang. Die experimentellen Gesten sind Ausdruck von Lebendigkeit und der Akzeptanz, jetzt und in diesem Moment zu sein, an einem bestimmten Punkt, wie ein Faden in einem Wandteppich des Seins."
 

Sting: "Fragile" (1987)

If blood will flow when flesh and steel are one
Drying in the colour of the evening sun
Tomorrow's rain will wash the stains away
But something in our minds will always stay

Perhaps this final act was meant
To clinch a lifetime's argument
That nothing comes from violence and nothing ever could

For all those born beneath an angry star
Lest we forget how fragile we are

On and on the rain will fall
Like tears from a star, like tears from a star
On and on the rain will say
How fragile we are, how fragile we are

Ad mortem festinamus

Tanz und Tod
Es liegt eine große Gegensatzspannung zwischen Tanz – dem vielleicht stärksten Ausdruck von Lebendigkeit – und dem Tod in seiner Bewegungslosigkeit. Neben zahllosen Verbindungen, die diese beiden miteinander eingehen, sticht eine besonders tragische heraus. Stellen Sie sich folgende Szene vor: Eine Gruppe von Frauen tanzt einen Reigen. Sie singen dazu. So würden sie es auf einem Fest machen, aber an diesem Tag geschieht etwas ganz und gar anderes. Die Frauen tanzen nicht im Kreis, sondern auf eine Klippe zu. Machen Sie sich gegenseitig Mut durch Musik und Tanz? Wollen Sie die Gruppe so zusammenhalten? Eine nach der Anderen stürzt sich tanzend in den Tod.

Dieser sogenannte "Tanz von Zalongo" war gewissermaßen ein realer Totentanz. Vor 218 Jahren, am 16. Dezember 1803, kam es in Griechenland zu einem Massenselbstmord von Frauen und Kindern. Festgesetzt von den ottomanischen Invasoren unter Ali Pascha drohte der Gruppe, die von den anderen Dorfbewohner*innen getrennt worden war, Vergewaltigung und Versklavung. Um diesem Schicksal zu entgehen, tanzten die Frauen über die Klippe. Die Erzählung über die Frauen aus Souli verbreitete sich rasant in ganz Europa. Wen würde es wundern, dass diese dramatische Szene in Bildern, Theater und Liedern festgehalten und nachagiert wurde. Griechenland erinnert im Zusammenhang mit dem in diesem Jahr 200 Jahre zurückliegenden Unabhängigkeitskrieg an das Ereignis. Ein Monument für die Frauen von Souli und den Tanz von Zalongo wurde 1961 eingeweiht. Der Ort befindet sich etwas nördlich von Preveza.

Der Reigen, den unsere Chorsänger*innen für Ad mortem festinamus tanzen, ist ein fröhlicher Reigen, auch wenn die Gemeinschaft nur durch die Kombination der Videos der allein Tanzenden entsteht – Corona verlangt, dass sie nur im Digitalen zusammen kommen.

Ad Mortem festinamus / Wir eilen dem Tod entgegen
mittelalterliches Tanzlied aus dem Llibre Vermell de Montserrat, 1399


Chor der Universität zu Köln
Leitung Michael Ostrzyga
musikalische Assistenz Joachim Geibel

Instrumente
Phoebe Funk (Oboe), Eva-Maria Pfisterer-Koch (Flöte) Joachim Geibel, Björn Kürten, Michael Ostrzyga & Jonathan Saatzen

Tänzer*innen aus dem Chor
Paul Drüke, Susanne Fricke, Almut Hoberg, Caren Kraupner, Irina Lemm,
Christina Maassen, Klaus Matzdorff, Julia Röwenstrunk, Benedikt Teichmann, Rudi Wiesner

Tonaufnahme
Joachim Geibel & David Schult

Audio-Mix
David Schult & Jonathan Saatzen

Video-Konzept, Bildregie und Schnitt
Sophia Herber

Gemälde
Ausschnitte aus dem Basler Totentanz in einer Aquarellkopie des Originals aus dem 15. Jahrhundert
von Johann Rudolf Feyerabend, 1806

TEXT:

Scribere proposui de contemptu mundano,
Ut degentes seculi non mulcentur in vano.
Iam est hora surgere a sompno mortis pravo.
Ad mortem festinamus peccare desistamus.

Ich habe mich entschlossen, vom Verächtlichen der Welt zu schreiben,
Damit diese degenerierten Zeiten nicht vergeblich vergehen.
Nun ist die Stunde, um vom bösen Todesschlaf zu erwachen.
Wir eilen dem Tod entgegen, wir wollen nicht mehr sündigen.

Vita brevis breviter in brevi finietur,
Mors venit velociter que neminem veretur,
Omnia mors perimit et nulli miseretur.
Ad mortem festinamus peccare desistamus.

Kurz ist das Leben und in Kürze endet es,
Der Tod kommt schneller als man glaubt.
Der Tod vernichtet alles und verschont keinen.
Wir eilen dem Tod entgegen, wir wollen nicht mehr sündigen.

Ni conversus fueris et sicut puer factus
Et vitam mutaveris in meliores actus,
Intrare non poteris regnum Dei beatus.
Ad mortem festinamus peccare desistamus.

Wenn du nicht umkehrst und rein wie ein Kind wirst,
Dein Leben durch gute Taten änderst,
Kannst du nicht selig in Gottes Reich eingehen.
Wir eilen dem Tod entgegen, wir wollen nicht mehr sündigen.

Tuba cum sonuerit, dies erit extrema,
Et iudex advenerit, vocavit sempiterna
Electos in patria, prescitos ad inferna.
Ad mortem festinamus peccare desistamus.

Wenn das Horn für den jüngsten Tag tönt,
Erscheint der Richter und ruft auf ewig die Auserwählten in sein Reich,
Die Verdammten in die Hölle.
Wir eilen dem Tod entgegen, wir wollen nicht mehr sündigen.

Quam felices fuerint, qui cum Christo regnabunt.
Facie ad faciem sic eum adspectabunt,
Sanctus, Sanctus, Dominus Sabaoth conclamabunt.
Ad mortem festinamus peccare desistamus.

Wie glücklich werden jene sein, die mit Christus herrschen,
Ihm ins Angesicht schauend
Werden sie rufen: Heilig Herr Zebaoth.
Wir eilen dem Tod entgegen, wir wollen nicht mehr sündigen.

Et quam tristes fuerint, qui eterne peribunt,
Pene non deficient, nec propter has obibunt,
Heu, heu, heu, miserrimi, numquam inde exibunt.
Ad mortem festinamus peccare desistamus.

Wie traurig werden die auf ewig Verdammten sein,
Sie können sich nicht befreien, werden zugrunde gehen.
Wehe, wehe, rufen die Elenden, nie werden sie von dort entkommen.
Wir eilen dem Tod entgegen, wir wollen nicht mehr sündigen.

Cuncti reges seculi et in mundo magnates
Adventant et clerici omnesque potestates,
Fiant velut parvuli, dimitant vanitates.
Ad mortem festinamus peccare desistamus.

Alle weltlichen Könige, alle Mächtigen dieser Erde,
Alle Kleriker und alle Staatsleute müssen sich verändern;
Sie müssen wie Kinder werden, auf Prahlerei verzichten.
Wir eilen dem Tod entgegen, wir wollen nicht mehr sündigen.

Heu, fratres karissimi, si digne contemplemus
Passionem Domini amare et si flemus,
Ut pupillam occuli servabit, ne peccemus.
Ad mortem festinamus peccare desistamus.

Ach, liebste Brüder, es ist schicklich,
Dass wir die bitteren Qualen Gottes kontemplieren, und weinen,
Nicht mehr zu sündigen geloben.
Wir eilen dem Tod entgegen, wir wollen nicht mehr sündigen.

Alma Virgo Virginum, in celis coronata,
Apud tuum filium sis nobis advocata
Et post hoc exilium ocurrens mediata.
Ad mortem festinamus peccare desistamus.

Gütige Jungfrau unter den Jungfrauen, im Himmel gekrönt,
Sei unsere Fürsprecherin bei deinem Sohn,
Und sei unsere Mittlerin nach diesem Exil.
Wir eilen dem Tod entgegen, wir wollen nicht mehr sündigen.

Vila cadaver eris cur non peccare vereris.
Cur intumescere quearis.
Ut quid peccuniam quearis.
Quid vestes pomposas geris.
Ut quid honores quearis.
Cur non paenitens confiteris.
Contra proximum non laeteris.

Du wirst ein wertloser Kadaver sein;
Warum schützt Du dich nicht gegen die Sünde?
Warum strebst Du, dich zu erzürnen?
Warum begehrst Du nach Geld?
Warum trägst du wertvolle Kleider?
Welche Ehren erwartest Du?
Warum bekennst Du nicht deine Schuld?
Warum nimmst Du dich nicht deines Nächsten an?

C. Loewe: "Totentanz"

Der Komponist Carl Loewe (1796–1869) schrieb u.a. rund 500 Balladen, die er als Konzertsänger auch selbst vortrug. Texte von Goethe vertonte er wiederholt. Der Totentanz op. 44/3 ist ein gutes Beispiel für Loewes Fähigkeit der anschaulichen Schilderung mit musikalischen Mitteln, der bildhaften Tonmalerei und Charakterisierung von Personen, Schauplätzen und Vorgängen. Wie das Skelett an der verschlossenen Turmtür rüttelt, die Glocke ihr „mächtiges Eins“ donnert und das Gerippe zerschellt, ist musikalisch deutlich nachgezeichnet. Zu dieser bildhaften Musik passen auch die Illustrationen, die Ernst Barlach, eigentlich hauptsächlich als Bildhauer bekannt, zu Goethes Gedicht anfertigte. Der Künstler, der laut eigenen Angaben wenig las und immer nur, wenn er sich zu einer Mahlzeit setzte, kehrte immer wieder zu Goethe zurück: „Alle Kritik in Ehren, überhaupt jede aufrichtige Ablehnung,“ so schreibt er 1915 an die Übersetzerin Less Kaerrick, „aber Goethe spricht zu mir, als wäre irgendwo Musik hinter den Wolken, aber keine geheimnisvolle, sondern eine Musik, die klingt, wie die Sonne scheint.“ (An Less Kaerrick, 15.9.1915. Briefe I, S. 443)

Carl Loewe nutzt die unheimlichen ebenso wie die humoristisch-ironischen Elemente aus Goethes Text, die das Lied-Duo Thomas Bonni/Christoph Schnackertz interpretatorisch aufgreift. Beide Künstler sind als Solisten immer wieder mit dem Collegium musicum gemeinsam aufgetreten. Schnackertz zuletzt mit Beethovens Chorfantasie Ende Januar 2020, Bonni bei der Johannes-Passion im März 2020, bevor die Pandemie Live-Auftritte unmöglich machte. Als Lied-Duo sind die beiden aktuell auch mit einem WDR3-Konzert mit Christian Morgenstern-Vertonungen des amerikanisch-israelischen Komponisten Richard Farber zu hören. Das Konzert finden Sie noch bis zum 11. Februar 2022 im Konzertplayer von WDR 3.

H. Purcell: When I am laid in earth

Für unser Totentanz-Projekt haben wir unter anderem die berühmte Arie „When I am laid in earth“ aus Henry Purcells Oper „Dido and Aeneas“ ausgewählt. Das Lamento – also den Klagegesang – der tragischen Heldin Dido hat Michael Ostrzyga für vierstimmigen Frauenchor gesetzt, ohne Solistin. So wird das schwere Einzelschicksal der Dido, die wir zu Beginn der Oper in tiefer Trauer über den Verlust ihres Gatten antreffen, in eine vielstimmige Äußerung von Klage und Trauer übertragen. „Remember me – Denk an mich./Vergiss mich nicht“. In diesen Wunsch mündet der Text am Ende und drückt damit ein zutiefst menschliches Bedürfnis aus.
Das Video zum Stück wurde an einem Ort des Gedenkens gedreht: in der Grabeskirche St. Bartholomäus in Köln, die seit 2014 als Kolumbarium genutzt wird. Der ursprüngliche Kirchenbau, geprägt von Backstein und Beton und damit die Realität des Arbeiterviertels Ehrenfeld spiegelnd, wurde durch den Architekten Hans-Peter Kissler (Wiesbaden) im Innenraum umgestaltet. An den Wänden des Innenraums sind umlaufend Nischen eingerichtet worden, in denen sich die Grabkammern für die Urnen befinden. Eine Platte und ein kleiner Sims bieten Raum für individuelles Gedenken. Als Raum im Raum ist, abgetrennt durch ein Geflecht aus goldenen Ringen, ein Bereich für die (Trauer-)Gemeinde ausgewiesen. Durch die Beleuchtung bietet dieser Raum im Raum gleichzeitig eine Konzentration wie auch die Durchlässigkeit nach außen. Nach oben offen verweist er auf das Transzendente. 
Das Material für das Video haben wir während einer Führung durch die Grabeskirche gefilmt. Pastoralreferntin Doris Dung-Lachmann (hier im Interview mit Sophia Herber bei Min. 34:56), lud uns in einem offenen Konzept dazu ein, selbst Fragen und Beobachtungen zu entwickeln. Eine ganze Flut von Assoziationen kam den Sänger*innen unseres Kammerchors beim Besuch der Grabeskirche: Das Geflecht des Raums im Raum erinnert an Handarbeiten, an das Fortweben von Geschichten und mündlichen Traditionen, an eine vergangene Zeit, an die wir selbst strickend oder unseren strickenden Müttern und Großmüttern (oder Vätern) zuschauend anknüpfen können. Die Durchlässigkeit erinnert an die Durchlässigkeit eines trauernden Menschen, der sich nicht abgrenzen kann vom Reich der Toten, an das er einen geliebten anderen Menschen verloren hat. Es markiert aber dennoch auch eine Grenze zu den Toten. Sie wiederum sind präsent, umgeben den Raum, nehmen Teil. Die kleinen, individuell mit Blumen, Kerzen, Fotos oder Gegenständen geschmückten Simse erinnern an Regale und damit an das Leben in einem individuell gestalteten Haus. Sie vermitteln eine Atmosphäre des Geschützt-Seins. Die Toten „leben“ hier. Der solide Betonboden mit seiner Struktur zeigt, wie wichtig es ist, einen Boden unter den Füßen zu haben, auf den man sich verlassen kann, der trägt. Er gibt den Trauernden, die diesen Boden vielleicht zu verlieren glauben, Halt. 
Beeindruckend ist der Kreuzweg des tschechischen Künstlers Ludek Tichy. Das ewige Ringen des Künstlers mit einem schweren Schicksalsschlag, den intellektuell zu begreifen unmöglich ist, fühlt man beim Betrachten seiner rohen Figuren mit ihren kleinen Köpfen und übergroßen Händen förmlich nach. Diese Figuren setzen einen Gegenakzent zur Geborgenheit. Der Tod ist auch grausam, reißt Menschen auseinander, schneidet den Faden an einer unmöglichen Stelle einfach ab und hinterlässt eine für immer veränderte Welt für die, die zurückbleiben. 
In den Gesichtern der Sänger*innen unseres Kammerchors, in ihren Händen und Füßen spiegelt sich das Gefühl von Trauer und Verlust, das die Musik transportiert. Stille und Schweigen begegnen hier auf der visuellen Ebene der Klage in der Musik. 

When I am laid in earth - Text und Übersetzung 

When I am laid in earth,
may my wrongs create no trouble in thy breast.
Remember me! But, ah, forget my fate!

Wenn ich in der Erde liege,
Mögen meine Verfehlungen Dich nicht bekümmern.
Denk an mich! Doch, ach, vergiss mein Schicksal!

Das Libretto der Oper Dido and Aeneas stammt von Nahum Tate (1652–1715).

 

L. Lechner: Deutsche Sprüche von Leben und Tod

Eine der zentralen Erfahrungen der Corona-Pandemie – besonders in ihren Anfängen – ist die Distanz. Die Selbstverständlichkeit von Nähe ist uns abhanden gekommen. Die Präsenz von Berührungen wurde auf den engsten Kreis unserer Lebensgemeinschaften reduziert.
Doch in Freude ebenso wie in Angst und Trauer, ist die Berührung eine natürliche Reaktion, ein menschliches Bedürfnis.

Ausgehend von diesen Überlegungen ist eine Art lebendiges Gemälde entstanden, das sehr viel Zeit bietet, sich umzusehen - eine Art Tanz, der durch die Entschleunigung entsteht. Sich in Ruhe auf Musik und Bild einzulassen, ist die Voraussetzung, um die Nuancen zu erleben und zu erspüren.

Leonhard Lechner vertont in seinen Deutschen Sprüchen von Leben und Tod Texte von Georg Rudolf Weckherlin, die auf Totentanz-Dichtungen aus dem süddeutschen Raum zurückgehen. Lechner war der erste, der einen kompletten Zyklus von Texten in deutscher Sprache vertonte. Für die Worte der 15 Sprüche findet der Komponist jeweils ihrem Sinn nach passende Musik, die seine ganze Kunst zeigt und als einer der Höhepunkte seines Schaffens bezeichnet werden muss. Die Deutschen Sprüche von Leben und Tod sind 1606 posthum veröffentlicht worden. Soweit bekannt, komponierte Lechner sie für seinen eigenen Gebrauch bzw. nicht aus Verpflichtungen seines Amtes heraus als Auftrag.

Zwei Sängerinnen unseres Kammerchors sind der Einladung gefolgt, ihre persönlichen Eindrücke, Erfahrungen und Überlegungen bei der Produktion von Musik und Video zu schildern. Herzlichen Dank an Tessy Huberty und Sylvia Herber.

Tessy Huberty:

Den Videodreh zu Lechner erlebte ich als aufregend und natürlich zu gleich. In der Pandemie haben wir gelernt, Musikstücken nicht nur mit der gewohnten Art und Weise zu begegnen, sondern uns auf Neues einzulassen und auch andere Zugänge und Methoden zu nutzen. Es ist dabei allerdings aufregend, die eigene Komfortzone zu verlassen. Und das war bei diesem Dreh nicht anders. Hinzu kommt der Wunsch, der Musik in der Darstellung gerecht zu werden.

Unser Chor zeichnet sich auch durch seinen Zusammenhalt aus und so war das Zusammentreffen und die Nähe in der Gruppe ganz natürlich. (Szenen mit) Umarmungen oder auch das gemeinsame Ausprobieren und einige Lacher haben die ungewohnte Situation aufgelockert.

Mir hat es große Freude bereitet, dass wir bei diesem Musikstück mehrere Ansätze miteinander verknüpft haben. Das konnte auch herausfordernd sein. Letztlich haben aber die vielfältigen Erlebnisse aus gemeinsamen Proben, Audioaufnahmen, einem Konzert und der besonderen Erfahrung des Videodrehs dafür gesorgt, dass mir das Musikstück noch lange positiv in Erinnerung bleiben wird.

Lechner erinnert uns daran, dass das Leben und der Tod Hand in Hand gehen. Er begegnet dem aber auch mit einer gewissen Leichtigkeit. Auch in dem entstandenen Video wird die Schwere, die das Thema „Tod“ bewirken kann, durch die Ästhetik im Video gemildert. Obwohl der Tod unerwartet auftritt und damit entsprechende Emotionen aufkommen, sorgen die Farbgebung und das Licht, ebenso wie die fließenden Bewegungen dennoch für eine wohlwollende und sanfte Atmosphäre und - „dann sind wir seelig“.

Sylvia Herber:

Die Zeit der Lockdowns und Inzidenzen stellt für Chöre eine besondere Herausforderung dar: Gemeinsames Proben hat sich mit der Gefahr durch Aerosole zu einer riskanten Beschäftigung entwickelt. Uns Sänger:innen fehlt nicht nur das gemeinsame Musizieren, sondern auch der soziale Aspekt. So wurde der Vorschlag, diesmal als Gruppe ein Stück aufzunehmen und auch mit Bewegtbild zu visualisieren, sehr willkommen aufgenommen. Wir wollten das Thema Nähe und Distanz, aber auch das aktuelle Erleben von Angst, Trauer und Verlust aufgreifen.

Die Grundidee des Musikvideos war, eine zunächst entspannte Feieratmosphäre darzustellen. Freunde und Freundinnen begrüßen sich, umarmen sich freudig, erzählen, albern herum. Währenddessen schleicht sich langsam und zunächst unbemerkt eine weiß gekleidete Person in die Gruppe. Sie mischt sich unter die Menge, wird als „Fremde“ bemerkt und geht dann zielstrebig auf eine der Feiernden zu, greift ihre Hand und nimmt sie mit. Die Stimmung kippt. Fassungslosigkeit, Erschrecken und Trauer machen sich breit. Wieder gibt es Umarmungen, diesmal jedoch in einer völlig anderen Qualität als zu Beginn der Feier.

Um uns die Unterschiede bei den Umarmungen bewusst zu machen, wurden wir mit einem Workshop an die Thematik herangeführt. Es war sehr ungewohnt, nach der langen Zeit der physischen Distanz wieder mehr Nähe zuzulassen. Ich selber bin eine Person, die grundsätzlich kein Problem mit körperlicher Nähe hat. Wir alle kennen uns schon recht lange und wissen auch, dass jede:r von uns einen anderen Umgang mit Nähe und Distanz hat. Die Übungen, die wir zur Verdeutlichung durchgeführt haben, haben dies nochmal verstärkt und es war interessant zu beobachten, wie unterschiedlich Menschen miteinander in Resonanz gehen, wie deutlich Körpersprache und Mimik sein können. Mit diesen Selbsterfahrungen, bei denen die individuellen Bedürfnisse sensibel berücksichtigt worden sind, haben wir schließlich das Bild, das später gedreht werden sollte, entwickelt.

Mir selber kam bei der Komposition des Bewegtbildes eine besondere Rolle zu, da ich den Tod verkörpert habe. Mir war bewusst, dass ich nicht zu den Feiernden gehöre. Ich habe mich hineingeschlichen, wurde teilweise nicht bemerkt und bei denen, die auf mich aufmerksam geworden sind, nahm ich deutlich Distanz wahr. Gleichzeitig fühlte ich auch die Macht, die Gruppe zu stören, auf die Stimmung Einfluss zu nehmen und mich durch nichts und niemanden aufhalten zu lassen. Das Erschrecken, das Viola ausdrückte, als ich sie das erste Mal an die Hand nahm, war total echt, sodass wir uns entschieden hatten, bei dieser Konstellation zu bleiben. Viola und ich hatten aufgrund unserer Rollen die Möglichkeit, die Situation nach unserem Weggang gut zu beobachten. Die Phase des Nichtverstehens und der anschließenden Erkenntnis des unausweichlichen Todes auf Seiten der Hinterbliebenen war körperlich spürbar.

Die Musik erlebe ich in Verbindung mit dem Bewegtbild als noch tiefer und berührender, da ich mich wieder sehr in den Momenten des Produktionstages wiederfinde. Ich bin dankbar, dass ich Teil dieses besonderen Projektes sein durfte.

St. James Infirmary

Interview mit Johannes Nink,
Dietgard Brandenburg und Sophia Herber

FRAGE: Wieso hast Du, Johannes, den Song für das Thema Totentanz ausgewählt?

Johannes Nink: Der Song ist ein Klassiker in der Jazzgeschichte. Ich spiele den Song bereits seit Jahrzehnten regelmäßig. Er gehört für mich zum Leben dazu, ebenso wie eigentlich für alle Menschen die Trauer zum Leben dazugehört.

Sophia Herber: Ich kannte den Song irgendwie, habe aber nie wirklich auf den Text gehört und musste erstmal herausfinden, wie der Zusammenhang zum Thema Totentanz / Pandemie ist.

Wie kam es zu der Idee, dem Song St. James Infirmary eine Version der Geschichte von Orpheus und Eurydike zu unterlegen?

J. N.: Wir haben gemeinsam aus den etlichen textlichen Varianten des Songs die ausgesucht, die uns am besten gefallen hat.

S. H.: Wegen der verschiedenen Textfassungen haben wir diskutiert, worum es hier eigentlich geht und welche Textversion welchen Schwerpunkt setzt. Auch als Gambler-Song bekannt, kann man sich den Protagonisten in manchen Textfassungen eher als einen Säufer vorstellen, der an der Theke jeden Abend die selbe Story zum Besten gibt.
Wir haben uns für den "edlen Leidenden“ oder Trauernden entschieden, da wir diese Version besser mit unserem Thema Totentanz / Verlust / Trauer verbinden konnten.

J. N.: Über die Fragestellung, warum jemand angesichts des Todes der Geliebten prahlt, dass sie nie jemand besseren finden wird, ist uns die Überlegung gekommen, dass dies eine Form der Bewältigung ist, und die vermeintliche Eifersucht eine Reaktion auf die Tatsache, dass die Geliebte freiwillig beim Tod bleibt, statt zurückzukehren.

S. H.: In einer Strophe, die wir nicht verwendet haben, ist darüber hinaus von dem „twenty dollar gold piece on my watch chain“ die Rede, das man dem Protagonisten mitgeben soll, wenn er selbst stirbt. Die Idee der Münze erinnert an den mythologischen Charon, den Fährmann, der die Toten für eine Münze über den Totenfluss (Acheron/Styx) zum Reich des Hades befördert. Dieses Bild führte mich assoziativ zu Orpheus, der seine Eurydike aus dem Totenreich zurückholen will. Was mir erstmal ein bisschen weit hergeholt erschien, ergab im Gespräch mit Johannes plötzlich Sinn.

J. N.: In einem Seminar der Musikwissenschaft zum Thema Orpheus und Eurydike ergab sich die Fragestellung, ob einer von beiden eventuell freiwillig die gemeinsame Rückkehr aus dem Totenreich sabotiert. Die etwas verkürzte Begründung: Es sei vielleicht besser, den Tod zu akzeptieren und mittels Musik zu verarbeiten, als tatsächlich aus dem Totenreich zurückzukehren.

S. H.: …und sich den Problemen realer Beziehungen zu stellen...
Irgendwie schien es, als hätte der Song einen wirklichen Bezug zur Orpheus-Geschichte. Der Protagonist verarbeitet seinen Verlust musikalisch. Er spielt immer wieder den St. James Infirmary Blues, hat die Musik gegen die Liebe eingetauscht. Es gab keine andere Möglichkeit mehr, die Geschichte zu erzählen. Da sie aber jetzt zu unserer eigenen Fassung geworden war, konnte sie auch nicht mehr mit bestehenden Gemälden dargestellt werden.
So kam es zu der Idee, Illustrationen für unsere Version anfertigen zu lassen. Dietgard Brandenburg hat eine Beziehung zur Musik und ein Verständnis dafür. Zum Glück hatte sie Zeit und Lust, mit uns zusammen zu arbeiten!

Dietgard, was ist Deine Verbindung zur Musik?

Dietgard Brandenburg: Meine Verbindung zur Musik ist mir zum einen in die Wiege gelegt. Meine Großmutter, die bei uns im Haushalt wohnte, war Opernsängerin und hat mit uns immer musiziert und allen ihren Enkelkindern Klavierspielen beigebracht. Heute bin ich mit einem Jazzmusiker verheiratet und so habe ich immer noch viel Musik in meinem Leben. Und das ist sehr schön!

Inwiefern spielt Musik für Deine Arbeit als Illustratorin eine Rolle?

D. B.: Wenn ich beauftragt werde, zu Musik zu illustrieren, empfinde ich mich als Übersetzerin - sozusagen von Klanglich in Visuell. Da spielt zwar auch stets subjektives Empfinden eine Rolle, aber trotzdem versuche ich bildlich umzusetzen, was der Musik innewohnt.
Bei "St. James" war das z.B. jetzt diese besondere Liebesgeschichte, zum einen tragisch aber auch ein bisschen resigniert. Und dieser süße Abschiedsschmerz, in dem der Sänger seine neue Ausdrucksform gefunden hat.
Die immer schöne Geliebte, für immer jung. Der ewig Liebende, für immer leidend. Der lauernde Tod, immer lockend.
Diese drei Figuren habe ich dann so angelegt, dass sie sich beliebig austauschen und ineinander blenden lassen. Das betont dann dieses Wechselspiel aus Glück, Trauer und Sehnsucht.

Wie hast Du die drei Figuren entwickelt und einen illustratorischen Stil für sie gefunden?

D. B.: Interessant fand ich die Idee, indirekten Bezug auf Orpheus und Eurydike zu nehmen. So habe ich die Frau so gekleidet, dass sie auch in die griechische Mythologie gepasst hätte. Die Farbwelt habe ich sehr gedeckt gehalten und reduziert, die Farben greifen sich immer wieder auf. Das Nachtblau des Todes findet sich in allen drei Figuren wieder. Das Weiß des Kleides ist das der Gebeine usw.
Strichführung und Hintergrund sind rough und handgemacht, passend zum Sound des Grand Jazz Ensembles.

S. H.: Das ist Dietgard wirklich hervorragend gelungen! Mit ihren Figuren zu arbeiten, hat mir sehr viel Spaß gemacht. Die Charaktere, die sie gezeichnet hat und die Haltungen, die sie gefunden hat, haben es mir leicht gemacht, mit eigentlich einer relativ begrenzten Anzahl an Bildern unsere Geschichte zu erzählen.

Welche Elemente an dem Song und der Geschichte interessieren Euch in Bezug auf das Thema Trauer, vielleicht auch in Bezug auf Corona?

J. N.: Ein Grund für die Auswahl ist die Tatsache, dass der Song vermutlich zu einer Zeit entstanden ist, in der tödliche Infektionskrankheiten sehr verbreitet und häufige Todesursache waren.

S. H.: Mich hat besonders der psychologische Aspekt interessiert. Orpheus’ Gang in die Unterwelt kann man mit einer Trauerphase gleichsetzen, in der für den Trauernden die Konturen zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten aufgelöst erscheinen. Die geliebte Person ist noch nicht ganz fort, man hat die neue Realität noch nicht akzeptiert. Dieser rohe oder wunde Zustand, seine Fragilität, aber auch das Potenzial, das in diesem Zwischenreich für Spiritualität und Kunst liegt, finde ich enorm spannend. Auf eine Person, die sich in diesem Zustand der Durchlässigkeit befindet, muss man gut aufpassen, ohne sie darin zu stören.
Im Bezug auf Corona finde ich es wichtig - dafür steht ja auch unsere Beschäftigung mit dem Totentanz insgesamt - sich bewusst zu machen, wie viele Menschen diese Trauer gerade erleben. Der Tod ist zu jeder Zeit allgegenwärtig, aber im Moment verbindet diese Erfahrung Gesellschaften weltweit. Statt von Spaltung zu sprechen, sollten wir uns bewusst machen, dass wir gesellschaftlich gerade mit dem Zustand von Trauer und Verlust umgehen müssen - egal, ob wir selbst betroffen sind oder nicht.


Credits 

St. James Infirmary
Traditionel
Arrangement: Paul Severson

Grand Jazz Ensemble der Universität zu Köln
Leitung: Johannes Nink

Vocals: Johannes Nink 
Bass: Alex Rönz
Guitar: Konstantin Bunte
Piano: Bernhard Nink
Drums: Jonathan Saatzen

Trumpets: Kilian Braun (Solo), Sven Ossendorf

Saxophons:
Alto: Roland Schild (Solo), Antonia Caspari
Tenor: Günther Kamm (Solo), Maren Haverkamp, Derk Oncken

Flute: Gesa Gerhardt
Clarinet: Aline Willems (Solo)
Trombone: Yves Schwarze

Tonaufnahme und Audio-Mix: David Schwager

Illustration: Dietgard Brandenburg 
www.dietgardbrandenburg.de

Idee und Storyboard: Sophia Herber & Johannes Nink

Montage der Illustrationen: Sophia Herber

Lyrics

I went down to St. James Infirmary
I saw my baby there
Stretched out on a long, white table
So sweet, so cold, so fair.

Let her go, let her go, and bless her
Wherever she may be.
She may search the whole world over
She'll never find a sweet man like me.

Folks, this is the end of my story
And if anyone should ask 
Just go ahead and tell them 
That I have the St. James Infirmary blues.

J. M. Bach: "Unser Leben währet siebenzig Jahr"

Johann Michael Bach (1648–1694)
Unser Leben währet siebenzig Jahr
Text: Psalm 90,10
Choral: Martin Schalling der Jüngere (1532–1608)

Beteiligte

Köln, Deutschland
Kammerchor der Universität zu Köln
Sopran: Amelie Conrad, Sylvia Herber, Anna Köppe, Kerstin Schütz
Alt: Tessy Huberty, Lara Schmalohr, Viola Springer, Henrietta Welter, Talia Young Skeen**
Tenor: Christian Dieterich, Jonas Holland-Moritz, Federico Marighetti, David Schult
Bass: Sebastian Hagedorn, Carsten Knoke, Karl Meidl, John Lutterman*, Liam Young Skeen **

* Alaska, ** California

San Francisco Bay Area, California
Laura Jeannin, Violin | Mereth Niemoeller, Violin
Ondine Young, Violin | Talia Young Skeen, Violin
Liam Young Skeen, Viola | Ivan Richards, Viola
Jonathan Salzedo, Cembalo, Director

Anchorage, Alaska / University of Alaska
Anchorage Baroque Orchestra
Marie Nielson, Violin | Jake Morris, Violin
Koree Guzman, Viola | Anna Berry, Cello
John Lutterman, Contrabass, Director

Coaching Sänger*innen/singers: Corinna Kaiser, Natascha Goldberg, Fabian Hemmelmann

Coaching Streicher*innen/strings: Laura Jeannin, Ondine Young

Audio-Mix: David Schult

Video-Konzept und Editing
zusammengestellt aus gefundenen Materialien der Teilnehmenden: 
Sophia Herber

Idee und Gesamtleitung: Michael Ostrzyga

Gefördert vom Goethe Institut

Kurzdokumentation: Making-off "Unser Leben währet siebenzig Jahr"

 

Im Sommersemester 2021 hat der Kammerchor der Uni Köln Johann Michael Bachs Motette "Unser Leben währet siebenzig Jahr" erarbeitet. Die Aufnahme dieses kurzen Stücks Musik war ein umfangreiches Kooperationsprojekt mit Musiker:innen aus Kalifornien und Alaska, das als "virtuelles Musikprojekt" vom Goethe Institut gefördert wurde. Die Dokumentation der Genese des Musik-Videos gibt einen guten Eindruck davon, was das digital unterstützte Musizieren in der Pandemie wirklich bedeutet, wie es technisch funktioniert, mit welchen Problemen man zu tun hat, aber welche Chancen es auch bietet. Die Beteiligten geben Einblick in ihre Arbeit und ihre Gedanken.

Camille Saint-Saëns: "Danse macabre"

Camille Saint-Saëns’ Danse macabre in der hier präsentierten Liedfassung wurde vor der berühmteren Orchesterfassung komponiert.
Den Text des Dichters Henri Cazalis, den Saint-Saëns vertont, hat unsere Kollegin Wiebke Heyens ins Deutsche übersetzt, Sie finden ihn unten stehend. Er spielt mit dem Motiv des Todes als Geiger, zu dessen unwiderstehlicher Musik die Skelette sich aus ihren Gräbern erheben und tanzen müssen.
Die für den Totentanz kennzeichnende Tatsache, dass im Tod alle Menschen gleich sind, wird hier anhand des Stelldicheins eines einfachen Wagenbauers mit einer Marquise oder Baronin illustriert.
Für unser Video haben wir zwei Kunststoff-Lehrskelette aus dem Institut für Anatomie ausleihen können. (Dank an Prof. Wodarz, Anatomie I und Prof. Vogt, Anatomie II!)
Begleitend zum Video zeigen wir Ihnen ein paar Fotos vom Transport der Skelette in unsere Aula.
Es war sehr interessant zu beobachten, wie die Menschen, denen wir auf dem Weg begegnet sind, auf die Präsenz eines Skeletts reagieren: Ein kurzes Schaudern und Zurückweichen, ein Überspielen der spontanen Reaktion auf die Konfrontation mit diesem "Fremden" durch Scherzen, Lachen und Unsinn machen, eine betonte Professionalität, die Frage nach dem respektvollen Umgang, die Vorsicht… Den unbefangensten Umgang, geprägt von großer Neugier, konnten wir bei Kindern beobachten.
 

Camille Saint-Saëns (1835–1921)
Danse macabre
Text: Henri Cazalis (1840–1909)

Thomas Bonni Bassbariton
Christoph Schnackertz Klavier

Tonaufnahme und Audio-Mix: Martin Stommel

Kamera: Manoel Mahmd und Adam Polczyk

Video-Schnitt: Sophia Herber

Danke für die Bereitstellung der Skelette an
Prof. Dr. Andreas Wodarz, Lisa Vogelsang, Prof. Dr. Johannes Vogt und Stefan Wagner.
 

Zig et zig et zig, la mort cri en cadence
Frappant une tombe avec son talon,
La mort à minuit joue un air de danse,
Zig et zig et zag, sur son violon.
Le vent d’hiver souffle, et la nuit est sombre,
Des gémissements sortent des tilleuls;
Les squelettes blancs vont à travers l’ombre
Courant et sautant sous leurs grands linceuls,

Zig et zig et zig, chacun se trémousse,
On entend claquer les os des danseurs,
Un couple lascif s’asseoit sur la mousse
Comme pour goûter d’anciennes douceurs.
Zig et zig et zag, la mort continue
De racler sans fin son aigre instrument.
Un voile est tombé! La danseuse est nue!
Son danseur la serre amoureusement.
La dame est, dit-on, marquise ou baronne.
Et le vert galant un pauvre charron—
Horreur! Et voilà qu’elle s’abandonne
Comme si le rustre était un baron!

Zig et zig et zig, quelle sarabande!
Quels cercles de morts se donnant la main!
Zig et zig et zag, on voit dans la bande
Le roi gambader auprès du vilain!
Mais psit! tout à coup on quitte la ronde,
On se pousse, on fuit, le coq a chanté…
Oh! La belle nuit pour le pauvre monde!
Et vive la mort et l’égalité!

 

Zick, zick und zick schlägt der Tod den Takt
mit dem Absatz auf ein Grab.
Um Mitternacht spielt er, zick, zick und zack,
einen Tanz auf seiner Geige.
Der Winterwind bläst und die Nacht ist dunkel,
ein Ächzen ertönt aus den Linden.
Weiße Skelette rennen und springen
unter ihren großen Leichentüchern durch den Schatten.

Zick, zick und zick, wie jeder sich verrenkt,
man hört die Knochen der Tänzer klappern,
Ein Pärchen sitzt lasziv auf dem Moos,
als ob es vergangene Zärtlichkeit kosten wolle.
Zick, zick und zack kratzt der Tod unaufhörlich
weiter auf seinem schrillen Instrument.
Ein Schleier fällt! Die Tänzerin ist nackt!
Ihr Tänzer umarmt sie verliebt.
Man sagt, die Dame sei Marquise oder Baronin.
Und der galante Jüngling ein armer Wagenbauer.
Abscheulich! Schon gibt sie sich hin
als sei der Kerl ein Edelmann!

Zick, zick und zick, welch eine Sarabande!
Welch Reigen von Toten gibt sich hier die Hand!
Zick, zick und zack, man sieht in einer Gruppe, den König neben dem Bauern herumtollen!
Aber psst! Plötzlich zerstreut sich die Runde,
man drängelt, man flieht, der Hahn hat gekräht…
Oh! Welch schöne Nacht für all die Armen!
Es lebe der Tod und die Gleichheit!

(ins Deutsche übertragen von Wiebke Heyens)